Singuläre Minimisierer

Singuläre Minimisierer von Variations­problemen mit Nebenbedingungen


Die allermeisten Gleichungen, welche die Natur und unsere physische Umwelt beschreiben, sind so- genannte partielle Differentialgleichungen, kurz PDEs. Ein Werkzeug, dass sich bei der Untersu- chung von PDEs als besonders zentral und hilf- reich erwiesen hat, ist die Variationsrechnung. Vereinfacht gesagt betrachtet man bei der Varia- tionsrechnung einen Punkt einer Funktion und schaut, wie sich die Funktion in der nahen Umgebung dieses Punktes verhält. Dies ist vor allem hilfreich, wenn der zu untersuchende Punkt ein Minimum, also der tiefste Punkt dieser Funktion ist. In der unmittelbaren Umgebung eines Mini- mums erwartet man eine Steigung dieser Funktion und man kann so Eigenschaften eines Mini- mums erforschen. Eine Bedingung, welche jedes Minimum erfüllen muss, wird in der sogenannten Euler-Lagrange-Gleichung formuliert.

Diese Gleichung ist auch sehr nützlich für sogenannte Variationsprobleme mit Nebenbedingungen. Ein klassisches Beispiel hierfür ist, wenn man ein Körper mit gegebenen Volumen so optimieren möchte, dass die Oberfläche minimal ist. Ich möchte also beispielsweise bei einem Behälter die minimale Oberfläche finden unter der Neben-bedingung, dass der Behälter einen halben Liter fassen soll. Eine Herausforderung bei solchen Problemen ist, dass die Euler-Lagrange-Gleichung nur für Minimisierer anwendbar ist, welche nicht singulär sind. Dies sind Minimisierer, welche beispielsweise keine Stellen haben, wo sie nicht definierbar sind.

In meiner Masterarbeit an der Universität Basel und der Universität Padua in Italien habe ich singuläre Minimisierer von Variationsproblemen mit Nebenbedingungen untersucht. Ich wollte herausfinden, ob solche Minimisierer tatsächlich als Lösungen auftreten können und falls ja, wie diese aussehen. Die Schwierigkeit dabei ist, dass die Standardtheorie für singulären Minimisierer nicht anwendbar ist und man neue Methoden entwickeln muss. Besonders interessant dabei fand ich, dass anscheinend bis dahin nichts dazu bekannt war, auch nicht im einfachsten Fall in einer Dimension. In einem ersten Schritt habe ich ein spezifisches Variationsproblem mit einer Nebenbedingung so konstruiert, dass eine Klasse von unendlich vielen singulären Kandidaten entsteht, welche in ei- nem Punkt nicht differenzierbar sind. Man kann sich dies graphisch so vorstellen, das diese Kandidaten da einen Knick haben. Ich konnte dann beweisen, dass diese Kandidaten nie eine Lösung des Problems sein können, ausser für einen Fall: dem Absolutbetrag, also wenn der Knick gerade 90 Grad beträgt. Für diesen Fall funktioniert der Beweis nicht. Dies ist überraschend, da dies der vermeintlich «einfachste» Fall sein sollte. Wie etwa beim Beispiel der minimalen Oberfläche eines Körpers: Man konnte hier beweisen, dass die minimale Oberfläche erreicht wird, wenn der Körper die Form einer Kugel hat. Es wäre überraschend, wenn wir hier eine Form erhalten würden, welche Ecken enthält. Man stelle sich beispielsweise eine Seifenblase vor, welche die Form eines Würfels hat. Diese Form wäre sehr instabil, die Oberflächenspannung wäre enorm. Die Natur sucht also automatisch die nicht singulären Minimisierer aus, also jene, welche eben keine Knicke haben.

Ich habe dann in einem zweiten Schritt den Fall des Absolutbetrages genauer studiert. Dazu habe ich überprüft, ob der Absolutbetrag eine Lösung eines beliebigen Variationsproblem sein könnte. Ich konnte beweisen, dass dies mit einer zusätzlichen Annahme an die Nebenbedingung nicht der Fall sein kann. Dies löst das Problem aber nicht voll- ständig, da die Nebenbedingung im spezifischen Beispiel aus dem ersten Schritt genau diese Annahme nicht erfüllt. Es ist also immer noch offen, ob der Absolutbetrag eine Lösung eines Variationsproblems mit Nebenbedingung sein kann. Diese Frage zu beantworten ist eines meiner nächsten Ziele.

Stefan Strebel